Freitag, 11. April 2014

Das Wesen unseres Bewusstseins werden wir niemals erfassen

In der NZZ am Sonntag vom 6. April 2014 erschien unter diesem Titel ein Interview, das Theres Lüthi und Nina Streeck mit dem Arzt, Philosophen und Dichter Raymond Tallis geführt haben. Tallis wurde vom britischen Magazin "The Economist" als einer der wenigen Universalgelehrten unserer Zeit bezeichnet. Tallis kritisiert die moderne Neurowissenschaft, weil diese menschliches Verhalten mit Bildern von Hirnaktivitäten erklären möchte. Tallis ist davon überzeugt, dass Verhalten nicht identisch mit der Hirnaktivität ist. Laut Tallis sind die Korrellationen zwischen Hirnverletzungen und Verhaltensausfällen recht schwach, wobei er gleichzeitig einräumt "Aber natürlich gibt es einige Korrelationen zwischen Hirnverletzungen und Verhalten."

"Wir können die Aktivität jeder einzelnen Nervenzelle messen. Aber was haben wir davon? Wir erfahren nicht mehr über das Wesen der Liebe als durch die Lektüre von Marcel Prousts 'A la recherche du temps perdu' oder durch das Hören eines Popsongs. Ich glaube nicht, dass wir Zeit für weitere Forschung brauchen, sondern dass wir auf diese Weise niemals ankommen werden. Die Neurowissenschaft wird helfen, etwas über die notwendigen Bedingungen des Bewusstseins oder einiger Verhaltensweisen zu erfahren. Aber das Wesen unseres Bewusstseins werden wir niemals erfahren, davon bin ich überzeugt."

Tallis ist davon überzeugt, dass mit den Gesetzen der Physik niemals beschrieben werden könne, wie Farben auf uns wirken oder wie Ärger, Freude oder Angst sich anfühlen. "Die Physik kann verschiedene Phänomene nicht erklären, die aber absolut zentral sind für eine Beschreibung des Bewusstseins." Als Beispiel führt Tallis an, dass unser Bewusstsein gleichzeitig mehrere Dinge wahrnehmen kann (z.B. worauf wir sitzen, wen wir dabei sehen und wo wir uns befinden) und sich dabei bewusst ist, dass es sich hierbei um ganz verschiedene Dinge handelt. "Wir haben kein physikalisches Modell, das diese Einheit und Verschiedenartigkeit gleichzeitig erklären kann. Man hat die Quantenkohärenz herangezogen, aber das ist Unsinn, denn sie dauert nur 10-43 Sekunden. Selbst Teenager haben eine längere Aufmerksamkeitsspanne. Aber viel wichtiger ist die Tatsache, dass wir zeitlich ausgedehnte Wesen sind. Ich erinnere mich daran, wie ich Sie vor zehn Minuten getroffen habe. In der Welt der Physik finden wir für unseren Sinn für die Vergangenheit oder die Zukunft keinen Anhaltspunkt. Albert Einstein hat darauf hingewiesen, dass es keine physikalisch beschreibbaren Zeitformen der materiellen Welt gibt. Vergangenheit und Zukunft sind für unser Bewusstsein entscheidend, kommen aber in der physikalischen Welt schlicht nicht vor. Wer das Gehirn als materiellen Gegenstand begreift, muss sich deshalb fragen, wie es die Basis für unser Bewusstsein sein kann für das doch Zeit eine wichtige Rolle spielt. Materialistische Ansätze sind meines Erachtens bankrott."

Tallis lehnt zwar den Materialismus ab, hat aber keine eigene Theorie des Bewusstseins. So sieht er seine Rolle denn auch nicht unbedingt darin, neue Theorien zu entwickeln, sondern vielmehr darin, auf falsche Denkansätze aufmerksam zu machen, um so als "bescheidener Gärtner" den "Müll auf dem Weg zur Wahrheit" zu entfernen. Tallis ist zwar Atheist, doch am Ende des Interviews sagt selbst er: "Allerdings kann die Biologie nicht alles erklären. Damit bleibt etwas offen."

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