Samstag, 30. Januar 2021

Körperspuren


Der Osteopath Bernhard Voss hat über 25 Jahre Erfahrung in Körpertherapie und führt in seinem faszinierenden, sehr gut verständlichen Buch schulmedizinische, osteopathische und psychologische Sichtweisen in einem ganzheitlichen Ansatz zusammen. Im ersten Teil des Buches erklärt Voss in 6 Kapiteln die Kraft der Psyche und zeigt im zweiten Teil die Macht der Organe in weiteren 8 Kapiteln auf. 

Bereits in der Einleitung schreibt Voss seine erste These: Die Psyche unterliegt ähnlichen anatomischen Gesetzmässigkeiten wie unser Körper und wird somit als eigenständiges Organ betrachtet. Seine zweite These lautet: "dass Zivilisationskrankheiten wie Rückenschmerzen, Tinnitus, Migräne etc. in der Gesellschaft zwar kollektiv zunehmen, aber nur individuell verstanden und gelöst werden können." Im Laufe des Buches zeigt Voss immer wieder auf, dass ein Symptom immer mit verschiedenen Organspannungen zusammenhängt, deren emotionale Ursachen jedoch in völlig individuellen Patientengeschichten zu suchen sind. Ein Symptom hat also viele verschiedene Geschichten...

Voss erklärt, dass es die Betrachtung von vier Aspekten (Voss nennt diese Fenster) nach Ken Wilber braucht, um die Entstehung von Symptomen und Erkrankungen zu verstehen: "Erst die Synthese der vier Fenster erklärt schlüssig, wie Symptome und Erkrankungen entstehen. Neben der wissenschaftlichen Sicht berücksichtigen die drei anderen Fenster die individuelle Geschichte des Patienten, seine Beziehungen und sein gesellschaftliches Umfeld. Alle vier Fenster stehen gleichberechtigt nebeneinander und beeinflussen sich gegenseitig. Das subjektive Empfinden eines Patienten ist in diesem integralen Medizinbild genauso wertvoll wie die Analyse von Blutwerten oder sein Beziehungsstatus." [S. 8]

Das "ICH-Fenster" (intrapersonal, individuell) ist zutiefst subjektiv und beschreibt alle individuellen Wahrnehmungen, Vorlieben und inneren Haltungen. In diesem Fenster ist alles zumindest subjektiv wahr. Es dreht sich dabei vor allem um den emotionalen Zustand zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Symptome. 

Das "DU-Fenster" (interpersonal) beschreibt die unterbewussten Glaubenssätze und Ansichten, mit welchen wir uns identifizieren. Hier sind vor allem Prägungen der Eltern vorherrschend, und symptome werden als reinszenierte kindliche Beziehungskonflikte beschrieben. 

"Folgt man dem empirischen Wissen der humanistischen Therapieformen erklären früh erlernte Verhaltensmuster und Glaubenssätze spätere Erkrankungen. Dementsprechend gilt im Beziehungsquadranten: Kontakt hilft heilen. Das Ich-Fenster hingegen propagiert: Selbstwahrnehmung heilt. Beides ist wahr." [S. 22]

Das "ES-Fenster" (extrapersonal, wissenschaftlich) blickt auf alle messbaren physiologischen Bedinungen und Parameter (z.B. Blutwerte, Rötngenbilder, EEG, EKG usw.). Physiologische Erkrankungen haben physiologische Ursachen. Die Akut- und Notfallmedizin behandelt diese mit physischen Eingriffen, Operationen oder Medikamenten. Auch dieser Aspekt ist wichtig und richtig.  Gemäss Voss ist der Blick durch das wissenschaftliche Fenster monologisch, weil eine Diskussion mit Blutwerten oder CT-Bildern wenig hilfreich ist. 

Das "SIE-Fenster" (transpersonal, systemisch) betrachtet die sozialen Rahmenbedinungen, in denen wir gross geworden sind und den soziokulturellen Kontext, in dem wir uns bewegen. Das "Es-Fenster" prägt unsere inneren Haltungen ("ICH-Fenster") sowie unsere Beziehungsmuster ("DU-Fenster").

"Alle vier Fenster der Wahrheit sind, ganz gleich ob wir sie wahrnehmen oder nicht, ständig in uns aktiv und formen unser Selbstverständnis genauso wie unsere Körperspannungen. [...] Ein wirklich umfassendes Verständnis von Erkrankungen berücksichtigt alle Fenster der Medizin gleichermaßen. Jede der vier Sichtweisen ist für sich genommen wahr, aber eben nicht nur wahr. Ein integrales Verständnis von Symptomen und deren Heilung umfasst immer das individuelle Erleben des Patienten (Ich), seine möglicherweise traumatisch erlebten Kontaktunterbrechungen (Du), seine Familiengeschichte (Sie) und die daraus resultierenden, messbaren körperlichen Auswirkungen (Es)." [S. 26 ff]

Voss beschreibt in den nachfolgenden Kapiteln die Macht der Psyche. Die Anatomie des Ego fasst er wie folgt zusammen: 

Die Anatomie des Ego beschreibt analog zur medizinische Anatomie den psychischen Apparat, dessen Gesetzmäßigkeit für alle Menschen gleichermaßen gelten. 

• Die Persona ist dabei die bewusste Oberfläche, der Schatten die verdrängte Tiefe der Psyche. 

• Persona und Schatten bilden gemeinsam das Ego und dienen dabei als Schutzmantel des Selbst, des Wesenskerns des Menschen. 

• Verdrängte Schattenaspekte resultieren in Angst vor Schuld • Verdrängte Selbstaspekte resultieren in Angst vor Freiheit. [S. 54]

Voss beschreibt den Zusammenhang zwischen den Emotionen (Wut und Trauer) und Instinkten (Aggression und Sexualität), welche uns das Überleben sichern. Als verdrängte, nicht integrierte Impulse können sie zu Verspannungen von Geweben führen und Symptome auslösen. Er führt auch aus, dass blitzschnelle Resonanzmechanismen auch noch heute unser Überleben sichern, uns krank machen aber auch heilen können. "Dabei funktioniert Resonanz auf allen Ebenen unseres Bewusstseins. Intrapersonal können wir uns selbst, interpersonal unser Gegenüber und transpersonal unsere Umgebung wahrnehmen."[S. 110]. Für diese beiden Resonanzformen beschreibt Voss verschiedene Beispiele und zeigt Übungen zu deren Wahrnehmung/Bewusstwerdung auf. Er fasst seine Ausführungen wie folgt zusammen: 

Ohne Resonanz keine Heilung. 

• Resonanz auf allen Ebenen ist das therapeutische Universalwerkzeug. Resonanz ermächtigt Patienten, die Ursache ihrer Symptome zu verstehen und selbstständig ihren Heilungsprozess zu beeinflussen. 

• Unsicherheit, subtile Scham und Schuldgefühle sind dabei zu Anfang unvermeidbar. Früher oder später führt Resonanz immer zu den emotionalen (Wut, Trauer) oder instinktiven (Aggression, Sexualität) Krankheitsursachen. Resonanz macht verdrängte Impulse durchsichtig und transformierbar.

Voss Buch ist auch voller praktischer Übungen und Beispielen aus seinem Praxis-Alltag. Es gibt auch viele anschauliche Grafiken und Bilder, welche die Zusammenhänge zwischen Emotionen, Organspannungen und Symptomen aufzeigen. So lässt uns Voss durch die verschiedenen Fenster der Entstehung von Krankheiten und Symptomen blicken und durch gezielte Resonanzübungen die dahinter liegenden Auslöser von Emotionen und Instinkten erkennen. 

Es ist sehr spannend, von Voss grosser therapeutischen Erfahrung zu lesen und seine Erkenntnisse über die faszinierenden Zusammenhänge zwischen Psyche und Körperspannungen sowie Symptomen im eigenen Körper zu erforschen. Voss selber ermuntert den Leser dazu mit den Worten: "Das kann etwas beunruhigend sein. Resonanz braucht Mut. Der Blick in den Schatten ist anfangs immer von Furcht begleitet. Falls Sie also während der Übung ein körperliches Unwohlsein oder eine subtil aufkommende Angst spüren, entspannen Sie sich. Angst und vegetative Körperreaktionen sind erprobte Wegweiser, die Ihnen durch ihre Anwesenheit gerade bestätigen, dass Sie auf der richtigen Spur sind. Lassen Sie sich also nicht beirren. Resonanz hat einen Preis. Bleiben Sie mutig und forschen Sie weiter. Die Lösung liegt wahrscheinlich direkt vor Ihrer Nase." [S. 115]