Samstag, 29. Juni 2013

Das Gedächtnis des Körpers

Joachim Bauer ist Arzt, Neurobiologe und Psychiater und forschte lange im Bereich der Spiegelneuronen. In seinem tollen Buch "Das Gedächtnis des Körpers" beschreibt er auf verständliche Art und Weise, wie unser Gehirn aus Psychologie Biologie macht. Dieses Buch ist wirklich sehr lesenswert und etwas vom Besten in diesem Bereich, was ich in letzter Zeit gelesen habe.



Was Bauer für mich so glaubhaft macht, ist seine Einsicht, dass auch die Neurobiologie die Schnittstelle Körper/Psyche nicht genau erklären kann: "Was ein Mensch fühlt, wird sich niemals alleine mit neurobiologischen Mitteln beschreiben lassen. [...] Nervenzellen und ihre Neurotransmitter können [...] nicht selbst fühlen."

Anhand vieler Beispiele aus seinem Alltag als Psychiater und mit seinem Wissen als Neurobiologe beschreibt Bauer eindrücklich, wie unsere Umwelt unsere Vernetzung von Nervenzellen im Gehirn massgeblich prägt. Er beschreibt, wie unser Spiegelneuronensystem in Gehirn unmittelbar nach der Geburt (und auch schon pränatal) damit beginnt, Signale aus der Umwelt zu spiegeln. "Mütterlicher Stress während der Schwangerschaft hat beim Nachwuchs später in Belastungssituationen eine bleibend erhöhte Auslenkung der CRH-Stressreaktion zur Folge." (S. 55) "Eine 'anregungsreiche Umwelt' ergibt sich für den Säugling daher zunächst vor allem durch die Beziehung, welche die Mutter mit ihm eingeht." (S. 67). "Positive Effekte einer abwechslungsreichen und anregenden Umgebung auf die Hirnstruktur liessen sich nicht nur bei jüngeren, sondern auch bei ausgewachsenen Tieren zeigen." (S. 65) Laut Bauer ist diese Spiegelung zunächst noch völlig unreflektiert, weil das Kind zuerst lernen muss, die gespiegelten Signale zu interpretieren und ein bewusstes Zurückspiegeln (oder auch abblocken unerwünschter Spiegelungen) erst später möglich wird. Er folgert deshalb: "Die Sicherung einer konstanten, führsorglichen und liebevollen Betreuung für Kinder ist daher nicht nur ein humanes und soziales Erfordernis, sondern auch eine Voraussetzung für eine ungestörte neurobiologische Entwicklung des Kindes." (S. 75) In der Kindheit und Jugend erworbene innere Neuronen-Netzwerke führen zu Schemata, die unser Leben als Erwachsene prägen."Bisherige Erlebnisse und Erfahrungen prägen neuronale Netzwerke, die zugleich Muster für die Bewertung oder Bewältigung künftiger Situationen werden. Neuronale Netzwerke codieren also auch zwischenmenschliche Beziehungen." (S. 65)

Bauer beschreibt auch, wo im Gehirn diese Neuronennetzwerke verstärkt werden: Die Mandelkerne (Amygdala) beteiligen sich entscheidend an der Bewertung neuer Situationen und Ereignisse, wobei an diesem Ort in limbischen System v.a. negative Erlebnisse gespeichert werden. Der Gyrus cinguli ist ebenfalls sehr wichtig in der Wahrnehmung und Interpretation der Umweltreize, weil dort die Schaltstelle zwischen äusserer Umwelt und innerer Körperwelt zu finden ist.   "Der Gyrus cinguli (deutsch: 'Gürtelwindung') [...] erwies sich aufgrund neuerer Untersuchungen als Sitz des Selbstgefühls, des Mitgefühls mit anderen Menschen und als Ort der Lebens-Grundstimmung." (S. 59) Bei Depressiven ist im Bereich des Gyrus cinguli eine veränderte Hirnaktivität nachweisbar.

Bauer zeigt dann anhand verschiedener Erkrankungen (z.B. Depression, Burn out oder postraumatische Belastungsstörung) das Zusammenspiel zwischen Umwelt, Genaktivität und Neurobiologie. "Häufige Gründe für das Entstehen seelischer Gesundheitsstörungen sind verunsichernde Erfahrungen bezüglich der Zuverlässigkeit von Bindungen, Ängste vor dem Verlust von Beziehungspersonen (oder tatsächlich erlittene Verluste), hoher Anpassungsdruck an die Bedürfnisse oder Gebote anderer, eine zu starke Zurückstellung eigener Bedürfnisse und nicht zuletzt auch Erfahrungen von Gewalt." (S. 213)

Auch die Epigenetik kommt ein wenig zum Zuge, und Bauer zieht zur Verdeutlichung ein tolles Bild des Genforschers Jens Reich bei: "[...] Jens Reich hat die Gene [...] mit einem Konzertflügel verglichen. Ein Konzertflügel kann für sich alleine keine Musik machen. Das Instrument genügt nicht, es muss jemand auf ihm spielen." (S. 10). Dieses Buch behandelt die Epigenetik nur soweit, als dass sie nötig ist, um die Mechanismen der Plastizität des Gehirns und Nervensystems zu verstehen.

Dieses Buch erklärt sehr eindrücklich Zusammenhänge, die uns alle zutiefst betreffen. Das Erschreckende dabei ist, dass durch fehlende oder belastende soziale Beziehungen nicht nur psychische Krankheiten resultieren, sondern nachweislich auch noch die Nervenzellen massiv degenerieren.


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