Sonntag, 27. September 2020

 Freund oder Feind?

Die Journalistin Jackson Nakazawa hat bereits mehrere Bücher zum Thema Neurowissenschaft, Immunologie und Emotionen geschrieben. Auch ihr neuestes Werk von 2020 behandelt diese spannende Thematik. Unter dem Titel "Freund oder Feind - Das Doppelleben der Mikroglia in unserem Gehirn" ist ein spannendes Sachbuch erschienen, welches die kleinen Gliazellen in ein ganz neues Licht rückt. 

Nakazawa beschreibt, dass die Mikrogliazellen keine Nerven-, sondern Immunzellen sind, die in einem sehr frühen Embryonalstadium vom Blut ins Gehirn eingewandert sind: "Mikroglia entwickeln sich aus derselben Stammzellfamilie, aus der auch die weissen Blutkörperchen und Lymphozyten des Immunsystems entstehen. Anstatt jedoch wie die weissen Blutkörperchen im Körper zu verharren, wandern die Mikroglia am neunten Tag der Empfängnis über das Blut ins Gehirn. Und dort nisten sie sich ein und bleiben ein Leben lang. [...] Mikroglia sind eigentlich gar keine Gliazellen. Sie sind keine Nervenzellen, sondern Immunzellen." (S. 32)

Diese Mikrogliazellen unterstützen die Neurone des Gehirns - ausser, das Immunsystem schlägt Alarm: Dann werden die gleichen Zellen zu unerbittlichen Feinden unserer Neurone und kappen deren Verbindungen (=Synapsen): "Chronischer Stress wird damit zu einem weiteren Umweltfaktor, der die Mikroglia Amok laufen und sie wie von Sinnen die Synapsen stutzen lässt, wobei auch wichtige neuronale Verbindungen verloren gehen." (S. 76)  [...]"Die Gliaforschung besagt, dass Entzündungsgeschehen und Krankheit sich mitunter gar nicht im Körper, sondern nur im Gehirn niederschlagen. [...] Winzige Mikroglia umschliessen und zerstören Synapsen, und das ist der Katalysator für Hunderte verschiedener Störungsbilder und Erkrankungen, die für Psychiatrie und Neurologie lange undurchschaubar blieben. [...] Wenn das Immunsystem überlastet ist, manifestiert sich dies bei manchen Menschen im Gehirn, bei anderen im Körper." (S. 78/79)

Neben dieser doch recht revolutionären Erkenntnis kommt gleich noch ein weiterer Dogmenbruch auf Seite 87: Der Nachweis, dass das Gehirn über die Lymphgefässe der Hirnhäute mit dem Immunsystem verbunden ist, wurde inzwischen erbracht! "Jahrhundertelang haben medizinische Lehrbücher erklärt, dass solche Lymphgefässe anatomisch betrachtet nicht im Gehirn existieren können. Dass es im Gehirn keine Lymphgefässe gäbe, galt als Beleg dafür, dass das Immunsystem des Körpers im Gehirn nichts zu melden hätte."  Wie jede Aussage belegt Nakazawa auch diese Erkenntnis mit entsprechenden Literaturhinweisen: Alle 16 Kapitel enthalten je zwischen 7 und 53 (!) Anmerkungen und Quellen, welche auf knapp 40 Seiten zuhinterst im Buch aufgeführt sind.

Nach der Lektüre des ersten Drittels des Buches hat der Leser also folgende Erkenntniss gewonnen: "Das Gehirn ist nicht nur ein unglaublich empfindliches Immunorgan voller winziger, mitunter hyperaktiver Immunzellen, die sogar die Gesundheit von Synapsen beeinflussen, sondern steht auch physisch in konstantem Dialog mit dem restlichen Immunsystem" (S. 91) Daraus folgt, dass alles, was den Körper krank macht, leicht das Immunsystem des Gehirns beeinflussen und auch dort Krankheiten auslösen kann!

Neuropsychiatrische Störungen entstehen demnach aufgrund gestörter Interaktionen zwischen Neuronen und Mikroglia-Zellen, welche Synapsen "fressen" und Entzündungen (sog. Neuroinflammationen) auslösen. Dieser Prozess spielt eine signifikante Rolle bei den stark ansteigenden Zahlen an psychiatrischen Erkrankungen und neurologischen Störungen (S. 121) "Zum Beispiel wissen wir, dass bei Fibromyalgie hyperaktive Mikroglia viel zu viel giftigen Tumornekrosefaktor (TNF) bilden, was die Symtome verschlimmert. Das gilt auch für chronische Schmerzen allgemein. Neuroinflammation und hypersensible Mikroglia scheinen zu den gemeinsamen Nennern solcher Erkrankungen zu gehören." (S. 268)

"Jüngste Studien zeigen, dass die Mikroglia beim Auslösen unkontrollierter Entzündungen einen bestimmten Neuronentyp im Hippocampus zerstören, der unter normalen Umständen ausgesprochen regenerationsfreudig ist. [...] Beruhigt man die Mikroglia jedoch wieder, wachsen diese Neuronen aufgrund ihrer natürlichen Regenerationsfreudigkeit wieder nach. [..] Die Mikrogliazellen versorgen die Neuronen nun mit der jeweils passenden Menge an Nährstoffen und Wachstumsfaktoren, damit sie wachsen, stabil bleiben, feuern und die richtigen Botschaften durch das Gehirn senden können." (S. 141).

Doch was aktiviert diese Mikrogliazellen? Scheinbar sind nebst Stress auch traumatische Kopfverletzungen dafür verantwortlich, dass unsere Immunzellen im Gehirn aktiv werden:  "Schon ein einmaliges 'moderates' Schädel-Hirn-Trauma kann eine Entzündung hervorrufen, die im Gehirn vor sich hin schwelt und noch viele Jahre später zu kognitivem Abbau, Depressionen, Affektveränderungen und Gedächtnisausfällen führen kann. [..] Das Gehirn von Menschen, die eine Gehirnerschütterung davongetragen haben, erscheint fünf Jahre älter als das chronologische Alter." (S. 226)

Nun stellt sich natürlich die Frage, wie man aufgrund dieser Erkenntnisse den Betroffenen helfen kann. Im Buch begleitet der Leser verschiedene "Schicksale", bei denen mit verschiedenen Methoden versucht wird, die von Mikroglia gekappten neuralen Schaltkreise wieder zu regenerieren. Eine der vorgestellten Methoden ist das Neurofeedback, welches bereits mehrfach erfolgreich bei der Therapie von verschiedenen psychischen Erkrankungen (z.B. posttraumatische Belastungsstörung, ADHS oder generalisierter Angsttörung) eingesetzt wird. Auch transkranielle Magnetstimulation (TMS) scheint im Gehirn dazu zu führen, dass unter- oder überaktive neuronale Schaltkreise moduliert werden können. Auch die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) zeigte in verschiedenen Experimenten gute Resultate. Doch wie kann man sich den Erfolg von Therapien erklären, wie alle gemeinsam haben, dass sie die Aktivität von Gehirnwellen beeinflussen?

"Nachdem wir nun wissen, dass Mikroglia weniger aktive Synapsen abfressen, erscheint es logisch, dass es therapeutisch wertvoll sein kann, Schaltkreise über eine technische Stimulierung der neuronalen Aktivität wieder zu stärken. [..] Wenn wir das Gehirn neu rhythmisieren, indem wir die Gehirnwellenaktivität verstärken oder abschwächen und so die ursprünglichen Schaltkreise wiederherstellen, verbessern sich die individuellen Symptome schnell." (S. 142/143)

Als Leser begleitet man Katie zu Dr. Hasan Asif, welcher ihre psychischen Probleme mit Hilfe der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) innerhalb von nur 13 Sitzungen lösen kann. Das Buch verschweigt aber auch nicht, dass es Patienten gibt, die überhaupt nicht auf TMS ansprechen. Allerdings belegen sowohl Studien als auch klinische Erfolge immer wieder, "wie sehr bestimmte Patienten mit therapieresistenten Depressionen und Angststörungen von TMS profitieren können" (S. 166)

Die Synchronisation der Gehirnaktivität auf einen natürlichen Rhythmus ist ein Behandlungsansatz. Ein weiterer zielt darauf ab, die Hyperaktivität der Mikrogliazellen zu bremsen. Wenn Mikrogliazellen nämlich aktiviert sind (also zum Feind werden), erzeugen sich entzündungsfördernde Botenstoffe, die das körperliche Schmerzempfinden der Patienten verstärken (S. 205). Deshalb versuchen Forscher die Mikrogliazellen mit aerobem Training, intermittierendem Fasten und computergestützem Gehirntraining zu "beruhigen". Zudem weiss man aus vielen hundert Studien, dass Stressbewältigungsstrategien die durch Stress verursachte Ausschüttung von entzündungsfördernden Substanzen senken. "In einer Studie von 2018 wies Mattson nach, dass Fasten die Kognition und die Stimmung verbessert, indem es die über Mikrogliazellen vermittelte Infektion unterdrückt, was wiederum die Neuronen vor Stress schützt und die Neurogenese gestattet." (S. 241) Kein Wunder, beeinflusst unser Essverhalten die Aktivität unserer Mikrogliazellen: "Zahlreiche Studien besagen, dass unerwünschte Veränderungen im Darmmikrobiom Depressionen und andere Affektstörungen im Gehirn in Gang setzen können." (S. 244)

Aber auch Stress beeinflusst unser Darmmikrobiom: "Dänische Forscher prüfen zudem, wie das Gehirn über den Vagusnerv Signale zu ungesunden Veränderungen im Marmmikrobiom erhält, was eine Vorstufe der Parkinson-Krankheit sein könnte." (S. 273)

Und was macht der interessierte Leser nun mit der Fülle an Informationen aus diesem spannenden Buch? Mir wurde wieder einmal mehr bewusst, wie wichtig eine gesunde, ausgewogene Ernährung, genügend Schlaf, Bewegung und ganz allgemein Strategien gegen den Alltagsstress sind. Eigentlich wissen wir das ja alles längst - doch es ist immer wieder faszinierend, die tieferen Zusammenhänge zu verstehen, wieso das so ist.

Mittwoch, 27. Mai 2020

Gesundmacher Herz

Der Mediziner Markus Peters schreibt in seinem sehr gut zu lesenden Buch viel Interessantes darüber, wie das Herz unseren gesamten Körper reguliert und steuert. Das Buch enthält viele gute Bilder,  Hinweise zu zusätzlicher Literatur ("zum Weiterlesen und Vertiefen") sowie auch praktische Übungen, die man gleich selber umsetzen kann. Sehr gut gefällt mir auch das "nicht-missionarische" von Peters. Gleich zu Beginn (auf S. 12) stellt er klar: "Das eine, einzig wahre Weltbild gibt es schlicht nicht!
Was will uns all das nun für das Thema dieses Buchs sagen? Die
Antwort lautet: Es gibt auf alles in dieser Welt unterschiedliche Sichtweisen
– und jede Sichtweise hat ihre Berechtigung."


Peters beschreibt die 4 Kommunikationswege zwischen Herz und Gehirn (neurale, biochemische, biophysikalische und energetische) gut verständlich und zeigt auf, dass Herz und Gehirn durchaus als gleichberechtigte Partner kommunizieren. Das Herz nimmt erwiesenermassen sogar direkten Einfluss  (mittels Herzfrequenzvariabilität) auf unser Gefühlshirn. Peters zeigt auf: "Wenn wir lernen, mithilfe der Herzfrequenz-Variabilität auf unser Herz zu „hören“, dann können wir im Weiteren auch lernen, bewusster mit unseren Emotionen umzugehen."

Auch der Chronobiologie und der Chronomedizin widmet Peters das Kapitel 4 in Form eines Gastbeitrages von Prof. Dr. Maximilian Moser. Weiter hinten im Buch zeigt dann Peters auf, dass Krankheiten oft infolge "gestörter oder unnatürlicher" Lebensryhthmen entstehen (Kapitel 11-13).

Das Buch zeigt anschaulich auf, wie sich unser vegetatives Nervensystem in "harmonische Balance" bringen lässt: "Gelingt es jedoch, die Herzfrequenz-Variabilität nachhaltig in einen regelmäßig schwingenden Zustand zu bringen, dann wird das Herz in die Lage versetzt, direkt positiv in den ganzen Körper hineinzuwirken."

Natürlich kommt auch Peters auf die Quantenphysik und Sheldrakes morphogenetische Felder zu sprechen und schreibt (S. 91): "Immer mehr renommierte Physiker (wie Hans-Peter Dürr, früherer Direktor des Max-Planck-Instituts) gehen deshalb davon aus, dass es ein solches, letztlich das gesamte Universum umspannendes und verbindendes „universales Feld“ gibt (bereits Max Planck selbst sprach in diesem Zusammenhang von einer „Matrix“).
Gibt es dieses quantenphysikalische universale Feld tatsächlich, dann stützt dies selbstverständlich die Sheldrake’sche Theorie der morphischen Felder entscheidend."

Interessant finde ich seinen Vergleich zwischen Herzdenken und Kopfdenken (ab S. 107): "Kopfdenken ist also eine weitverbreitete und oft auch durchaus erfolgreiche Planungsmethode. Sie beruht allerdings darauf, Erfahrungen aus der Vergangenheit zum alleinigen Maßstab für die Beurteilung der Zukunft zu machen. Das kann erfolgreich sein, es engt aber auch die Möglichkeiten, Zukunft frei zu gestalten, erheblich ein. [..] Das Herzdenken hingegen geht einen ganz anderen Weg. Das Herzdenken ist nicht auf die Analyse des Vergangenen ausgerichtet, sondern es denkt von der Zukunft, also vom Ziel her, das ich erreicht sehen möchte. [...] Herzdenken analysiert nicht, es synthetisiert: Es sieht Zusammenhänge – statt Vergangenes immer weiter aufzuspalten und
in seine Einzelteile zu zerlegen. [..] Verzeihen zu können setzt die Fähigkeit zum Herzdenken voraus.
Oder treffender gesagt: Es setzt voraus, dass ich das Herzdenken zulasse, dass ich von der Zukunft her denke, statt (schlechte) Erfahrungen aus der Vergangenheit in ständig wiederholtem, gedanklichem Kreisen immer neu zu bewegen und zu analysieren. [..] Wer also – dem Prinzip des Herzdenkens folgend – Gefühle der Liebe, des Verstehens, des Verzeihens aussendet, vermag damit bei sich selbst und in seiner Umgebung positive Wirkungen zu erzielen, die auf keine andere Weise entstehen könnten."

Weiter widmet Peters ein ganzes Kapitel den erstaunlichen Zusammenhängen zwischen Herz - Erde - Sonne und schreibt auf S. 131: "Sicher ist aber schon jetzt, dass unsere Gesundheit und auch unser Herz vom Erdmagnetfeld und damit von der Sonne intensiv beeinflusst werden."

Für mich neu und sehr faszinierend war Peters Aussage, dass das Blut in der frühen Embryonalentwicklung in den Blutseen der sich entwickelnden Plazenta bereits zu pulsieren beginnt, bevor das Herz als Organ überhaupt entstanden ist: "Diese sich verbindenden Blutinseln beginnen zu pulsieren – und zwar ohne jede Verbindung zum späteren Herzen (das es als Organ zu diesem Zeitpunkt ja auch noch gar nicht gibt). Und aus dem pulsierend strömenden Blut heraus bilden sich dann die ersten Gefäße. [...] Es ist also eine Tatsache, dass das sich entwickelnde Blut gleichsam „von alleine“ zu pulsieren beginnt, und dass dieses Pulsieren nicht etwa erst mit der Ausbildung und dem „Anschluss“ des Herzens an
die ersten Blutgefäße anfängt."